Younghwan Noh
Bergische Universität Wuppertal, Deutschland
In der „Architektonik der reinen Vernunft“ (KrV: B869f) argumentiert Kant, theoretische und praktische Philosophie seien systematisch voneinander zu trennen. Allerdings stellt sich die Frage, ob Erstere wirklich von Letzterer, genauer: vom praxisbezogenen Problem, getrennt werden kann. Cassirer, ein Neukantianer des frühen 20. Jahrhunderts, vertritt die Ansicht, dass Erstere niemals unabhängig von Letzterer behandelt werden kann. Im seinem vierbändigen Werk Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit (ab 1906) argumentiert er, der Aufbau des theoretischen Systems hinsichtlich des Erkenntnisproblems sei nur in historisch-praktischen Horizonten begründbar. Es ist zuerst auf den ‚historischen‘ Horizont auszurichten und zuletzt auf den ‚praktischen‘ Horizont. Dementsprechend wird es sowohl theoretisch als auch historisch-praktisch charakterisiert. Im vorliegenden Vortrag wird systematisch um theoretische Normen herum analysiert, wie das Erkenntnisproblem in Cassirers Denken solche Charakteristika gewinnt.
Zunächst wird argumentiert, dass Kategorien a priori, theoretische Normen in Cassirers Erkenntnisproblem, als philosophisches ‚Hemmnis‘ zwischen Historizität und Theoretizität erscheinen. Einerseits sind Kategorien a priori, wie z.B. Raum und Zeit, relativ in dem Sinne, dass sie nur innerhalb eines historischen Kontextes bestimmbar sind. Kant z.B. definiert Raum und Zeit entsprechend der Konzeption der Newtonschen klassischen Physik von absoluter Zeit und absolutem Raum. Die spätere Entwicklung der Einstein’schen Relativitätstheorie führt jedoch zum neuen Begriff der Raumzeit. Hieraus zieht Cassirer die Schlussfolgerung der ‚Historisierung des Apriori‘. Demnach sind Kategorien a priori erst durch ein bestimmtes epochales Erkenntnisideal tatsächlich bestimmbar. Andererseits gibt es jedoch bestimmte Kategorien a priori, die nicht historisiert und relativiert werden können. Cassirer betrachtet sie als ‚letzte logische Invarianten‘ in einem streng begrenzten Sinne. Die Newtonsche klassische Physik und die Einstein’sche Relativitätstheorie vertreten zwar unterschiedliche Auffassungen von Raum und Zeit, doch theoretisch beruhen beide auf der Grundidee vom ‚Beisammen‘ und ‚Nacheinander‘. Daraus ergibt sich allerdings die Frage nach der Kompatibilität der doppelten Wesensart der Kategorien a priori, die zuvor als Hemmnis bezeichnet wurde.
Anschließend wird argumentiert, dass Cassirers Erkenntnisproblem dieses Hemmnis auf ‚praktische‘ Weise auflöst. Kategorien a priori können sich dem gegebenen historischen Kontext nicht entziehen. Deshalb werden Kategorien im letzten Sinne nicht als ‚Letztbegründung‘ in einem überzeitlichen Sinne betrachtet, sondern als letzte ideale ‚Forderung‘, die erfüllt werden sollte, indem die verschiedenen geschichtlichen Epochen kontinuierlich untersucht werden. Diese ideale Forderung gilt als Aufgabe, die noch nicht erfüllt ist und der der menschlichen Geist in jeder geschichtlichen Epoche gegenübersteht. Daher sollte er weiterhin praktisch fortschreiten, um sie zu verwirklichen. Allerdings besteht immer eine Kluft zwischen dem praktischen Fortschritt und der idealen Forderung. Der menschliche Geist kann innerhalb der historischen Grenze niemals eine letzte, streng bestimmte Kategorie a priori vorwegnehmen, sondern bleibt immer in der Unbestimmtheit. In ihr aber betreibt er beständig praktische Untersuchung und schafft zudem neue theoretische Weltbilder. Diese fortschreitende Entwicklung bis hin zur Verwirklichung der Forderung gehört für Cassirer zur ‚Freiheit‘ des menschlichen Geistes.
Wenn Kategorien a priori, theoretische Normen des Erkenntnisproblems,so aufgefasst werden, sollte das theoretische Philosophieren das historische und praktische Philosophieren unbedingt berücksichtigen, um sich selbst richtig untersuchen zu können.