Programm
Negation der Negation des Rassismus: Zur Divergenz der Theorie und Praxis im Antirassismus
Erkut Bükülmez
Goethe Universität Frankfurt, Deutschland
Dieser Vortrag entfaltet zwei Lesarten für die dominanten Formen gegenwärtiger antirassistischer Praxis. Ausgangspunkt ist eine doppelte Bewegung, die sich aus zwei Ereignissen des gleichen Jahres entspinnt: dem 19. Februar, dem Attentat in Hanau, und dem 25. Mai, der brutalen Ermordung George Floyds durch Polizeigewalt. Diese Ereignisse markieren nicht nur historische Zäsuren der Praxis des Antirassismus, sondern seine Spaltung. Der (praktische) Antirassismus zerfällt ausgehend von ihnen in zwei unversöhnliche Formen.
Der erste Antirassismus erscheint als Praxis der Selbstorganisation, die sich in der Sorge und im Schutz für das bedrohte Leben ausdrückt. Hier tritt Antirassismus als Praxis der Selbstverteidigung hervor: Das Selbst, das verteidigt wird, ist die Community – eine imaginierte Gemeinschaft, deren Konturen erst durch die widersprüchliche Präsenz der Bedrohung sichtbar werden. Dem gegenüber steht ein zweiter Antirassismus, der sich als öffentliche Praxis begreift, eine Praxis der symbolischen Prävention. Dies ist der Antirassismus der Repräsentation – eine Repräsentation der Repräsentation. Er erscheint als Reflex einer parlamentarischen Repräsentation, die bereits im Sterben liegt und zeigt sich anachronistisch, verhaftet im »politischen Verstand« (Marx). Sie bleibt gefangen in einer Ordnung, die ihrer Zeit hinterherhinkt und die Dringlichkeit und den Ansprüchen des Kampfes nicht mehr einholt.
Dieser Vortrag verfolgt die Subjektkonstituionen, die in diesen Kämpfen entfalten, und fragt nach ihrer Differenz. In welchen gesellschaftlichen Formen bringen sie ihre Akte/Handlungen zum Ausdruck? Wie unterscheiden sich ihre politischen Temporalitäten? Was ist der Begriff des „Antirassismus“ der sich aus den Kämpfen ergibt? Wenn es sich tatsächlich um grundverschiedene Praktiken handelt, müssen sie diese Fragen notwendig unterschiedlich beantworten – doch das tun sie nicht.
Die vermeintliche Differenz, die sich hier eröffnet, wird zum Ausgangspunkt einer radikalen Reflexion. Mit Bezug auf antirassistische Theorien wird der Versuch unternommen, diese Bewegungen begrifflich zu klären und zu radikalisieren. Was wäre ein „wahrer“ Antirassismus? Welche Form muss er annehmen?
Eine bloße (bestimmte) Negation des Rassismus, wie sie in diesen Formen des Antirassismus auftritt, greift zu kurz und ist politisch gefährlich. Antirassismus darf nicht in der simplen Negation erstarren, sondern muss die Bewegung der Negation selbst überschreiten. Er muss zur Negation der Negation werden – ein Prozess, der den Rassismus nicht nur auflöst, sondern seine Bedingungen durchdringt und aufhebt. Dies ist der Schritt, den Marx und Fanon aufzeigen: Antirassismus ist nicht allein die Befreiung von Rassismus, sondern die Überwindung durch ihn hindurch – ein dialektischer Akt, der den Rassismus in seiner eigenen Aufhebung transzendiert und diesen verwirklicht ohne Wiederholung und Konservierung.