Programm
Handeln ohne Überzeugung - Sextus Empiricus und das Apraxia-Problem
Theodor Ferdinand Avenarius
Universität Bonn, Deutschland
Sextus Empiricus ist der einzige überlieferte griechische Pyrrhoneer. Unter dem Pyrrhonismus versteht man eine antike Denkrichtung, die auf den Philosophen Pyrrho von Elis zurückgeht. In seinen Werken formuliert Sextus einen philosophischen Standpunkt, der die Philosophie als solche zugleich kritisch in den Blick nimmt. Die Philosophen teilen sich nach Sextus in zwei Gruppen: Dogmatiker und Skeptiker. Beide Gruppen haben den gleichen Ausgangspunkt: Sie versuchen, die Welt darauf hin zu untersuchen, wie sie wirklich beschaffen ist.
Dogmatiker nennt Sextus diejenigen Philosophen, die glauben, bereits einiges erkannt zu haben. Die Skeptiker sind diejenigen, die noch auf der Suche sind. Sextus führt die philosophischen Lehren seiner Zeit auf und stellt ihre Unzulänglichkeit fest. Er hält den Anspruch der dogmatischen Philosophie noch nicht für eingelöst und daher die skeptische Philosophie für vorzugswürdig.
Die radikale theoretische Urteilsenthaltung führt jedoch zu einigen Problemen im Bereich des Praktischen. Eine grundlegende Bedrohung für den praktischen Pyrrhonismus ist beispielsweise die Kritik, der Skeptiker könne unter Verzicht auf Überzeugungen (δόγματα) überhaupt nicht handeln. Aristoteles formuliert den Vorwurf an die Skeptiker, ihre Lebensweise unterscheide sich nicht von der der Pflanzen, da sie keinem bestimmten, vernünftigen Maßstab folgen würden. Bei Diogenes Laertius heißt es von den dogmatischen Philosophen, die Skeptiker würden sogar „das Leben aufheben, indem sie alles verwerfen, woraus das Leben besteht.“ Später ist insbesondere David Humes Auseinandersetzung mit dem Pyrrhonismus auf eine ähnliche Kritik hinausgelaufen. Nach Hume müssten, wo die pyrrhonischen Prinzipien zur Wirkung gelangten, jedes Handeln, jede Überzeugung und somit auch das Leben zugrunde gehen. Diese Konsequenz des pyrrhonischen Denkens werde aber niemals erreicht, da die menschliche Natur zu stark sei und uns ständig zwinge, zu handeln und Überzeugungen zu bilden.
Stellvertretend für diese Kritik lässt sich das von den Stoikern stammende Apraxia-Argument (απραξία, Untätigkeit) wie folgt darstellen:
(1) Im praktischen Lebensvollzug muss ein Mensch handeln, das heißt: Wählen und Meiden.
(2) Wählen und Meiden setzt eine Überzeugung über den Gegenstand voraus, der gewählt oder gemieden werden soll.
(3) Der Skeptiker hat keine Überzeugungen.
(4) Aus (3) und (2) folgt: Der Skeptiker wählt weder, noch meidet er Gegenstände.
(5) Aus (4) und (1) folgt: Der Skeptiker handelt nicht, ist also lebensunfähig.
Die Gültigkeit dieses Arguments hätte folgendes Problem für den Skeptiker zur Folge: Die pyrrhonische Skepsis erweist sich als völlig unbrauchbare Orientierungshilfe beim Handeln. Das wäre für eine praktisch ausgerichtete Philosophie, deren erklärtes Ziel es ist, eine Anleitung zum richtigen Verhalten zu geben, besonders fatal.
Ausgehend von einer kurzen Einführung in den theoretischen Pyrrhonismus bei Sextus Empiricus möchte ich in meinem Vortrag in wesentliche praktische Probleme dieser Denktradition einführen. Vor allem möchte ich die Handlungsfähigkeit des Skeptikers, die Möglichkeit einer skeptischen Moral und die Kunst (τέχνη) der Skepsis selbst infrage stellen sowie anschließend versuchen, ihnen mit Sextus Empiricus zu begegnen.